70 Jahre Heimatvertriebene in Lengede

04.05.2016

Am damaligen Kleinbahnhof der Ilseder Hütte in Lengede – dort, wo heute die Straße „An der Realschule“ liegt – wurden vor 70 Jahren, am 3. Mai 1946, insgesamt 410 deutsche Heimatvertriebene ausgeladen. Sie waren am 28. April mit insgesamt 1.500 Personen durch den Transportbefehl 64 der „Aktion Schwalbe“ in 32 unbeheizten Viehwaggons vom Güterbahnhof Frankenstein in Schlesien (polnisch: Zabkowice Slaskie) in die Britische Zone „verfrachtet“ worden. Über das Lager Marienthal bei Helmstedt wurde der Transport nach Peine weitergeleitet und die 350 meist alten, wehrmachtsunfähigen Männer, 727 Frauen und 423 Kinder auf den Landkreis Peine aufgeteilt.

Im Auftrag der Gemeindeverwaltung Lengede verteilte der Lebensmittelkaufmann Ewald Leifheit die 410 ihrer Heimat beraubten Schlesier auf beschlagnahmte Zimmer, Dachböden, Baracken und „Viehställe“. Viele Vertriebene waren überzeugt, nach einigen Monaten – nach der Ausplünderung durch Russen und Polen – in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen. Doch es sollte völlig anders kommen: Sie mussten sich einem schweren, endgültigen Neuanfang stellen.

Der „Treckführer“ des Gesamt-Transportes Alfons Sauer (ehemals Wirtschaftsinspektor auf Gut Quickendorf, polnisch: Lutomierz) wurde 1952 sogar 1. Beigeordneter und damit stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Lengede. Sein Sohn Helmut, geboren am 24. Dezember 1945, war langjähriger Abgeordneter des Deutschen Bundestages und ist Mitglied des CDU-Landes- und Bundesvorstandes sowie Landesvorsitzender der Schlesier in Niedersachsen. Auch der langjährige Lengeder Ratsherr Georg Ratzke war mit seiner Familie mit diesem Treck (aus Hertwigswalde, polnisch: Doboszowice) ausgewiesen worden.

Güterbahnhof in Frankenstein

 
Dieser Treck war der erste größere Vertriebenentransport, der Lengede nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte. Allein in den Peiner Landkreis kamen in der Folgezeit ca. 40.000 Ostdeutsche. Die späteren Transporte wurden zunächst in das Lager Salzgitter-Immendorf geleitet, von wo aus die Vertriebenen auf die umliegenden Städte und Gemeinden verteilt wurden. Außer Schlesiern kamen so auch Pommern, Ost- und Westpreußen, Danziger, Sudetendeutsche und Vertriebene aus anderen ehemaligen Ostgebieten in die Gemeinde Lengede und „veränderten“ das Dorfleben. Über die Einweisung in Barbecke, das heute zu Lengede gehört, gibt es in London einen englischen Dokumentarfilm der damaligen Besatzungsmacht. Überall aber packten die Vertriebenen mit an, ermöglichten das „Wirtschaftswunder“ maßgeblich mit und bereicherten das kulturelle Leben und den Sport.

Über die Jahre wurden vielfältige Probleme gemeinsam gelöst, die sich nicht in der Wohnraum- und Lebensmittelbeschaffung oder in der Bereitstellung von Arbeitsplätzen erschöpften. So war z.B. für die katholischen Ostdeutschen im mehrheitlich protestantischen Lengede ein Kirchenneubau notwendig: die 1961/62 errichtete Sankt-Marien-Kirche.

70 Jahre nach den ersten Vertriebenentransporten geht es in Lengede heute – wenn auch mit anderen Voraussetzungen – abermals darum, Menschen ein neues Zuhause zu bieten. Es gilt, die Aufnahme und Integration ausländischer Flüchtlinge zu bewältigen. Voraussetzung dafür ist der Fall der Sprachbarrieren – eine Hürde, die es in der Vergangenheit nicht gab. Nur dann können auch unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte sinnvoll vermittelt werden, da die Asylsuchenden und Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten z.T. aus völlig anderen Kulturkreisen zu uns kommen. Leider gehören Flucht, Deportation und Vertreibung weltweit noch immer zur Politik von Diktatoren.